Krise am Rhenus


und doch spornte der Bote sein Pferd immer wieder an, bemüht bei der schlechten Sicht auf der Straße zu bleiben, auf welcher Vereisung drohte. Flocken stoben ihm ins Gesicht gen Westen gewendet. Es war ein Meisterstück dieser Ritt in eisiger Nacht. Sowohl aus der Nase des Reiters, als auch aus den Nüstern des Pferdes kamen Stösse weissen Atems, die sich sofort in Reif verwandelten, Mensch und Tier war keine Schonung vergönnt. Der Bote wusste es ging um viel, auch wenn er den Wortlaut der Depesche in dem Futteral an seiner Seite selbstverständlich nicht kannte, so hatte er doch die Aufregung und Hektik mitbekommen, in welcher die Nachricht verfasst worden war und die Situation am Rhenus war ja unverkennbar...

Nachdem der letzte Straßenposten ein gutes Stück hinter ihm lag, wo dick in Fell und Wollmäntel eingehüllte Wachen umständlich seinen Passierschein kontrolliert hatten und er mit wenig Geduld auf die Dringlichkeit seiner Sache hinweisen musste, erschienen endlich nach den erschöpfenden Ritt die Umrisse der villa, in welcher derzeit das vorgeschobene Hauptquartier der gallischen Legionen lag, sonst hätte der Ritt bis nach Lutetia führen müssen. Das zweistöckige Gebäude mit verwinkelten Anbauten lag in Finsternis, die meisten der kleinen Fensterrundbögen waren von Schlagläden geschlossen, erhellt wurden nur die Partien, welche durch die Blendlaternen der Wachen kontrolliert wurden. Das kurzzeitige Quartier des Magisters per Gallias, des Heermeisters für diesen Reichsteil wurde streng abgeschirmt. Am Mauertor verwehrten Angehörige der Protectores Domestici den Einlaß und forderten wiederum Papiere, fragten nach dem Begehr. Die Szenerie wurde von Fackeln spärlich erhellt, das dampfende Roß, der atemlose Reiter und die Gerüsteten tief in ihre Mäntel mit Kapuze gehüllt, unter denen Helme hervor blinkten, umschlungen von Wollschals, die Hände bewehrt mit Handschuhen, finstern die Gesichter, finster die Stimmung.

Nachdem das Pferd in die Stallung geführt und dem Boten Einlaß ins Haus gewährt worden war, traf er im Eingang auf den Majordomus, der gerade aus dem Schlafgemach kam, sich den Mantel über die Schultern warf, mit der Fibel schloß. Er hatte den breiten bronzenen beschlagenen Offiziersgürtel angelegt und musterte mißmutig den dick in Fell gepackten, Schnee verklebten Reiter, welcher in Grußstellung ging, aber nur noch wenig Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen besaß. Als rechte Hand im Hause des Oberbefehlshabers war ihm gemeldet worden, daß eine Sache höchster Dringlichkeit keinerlei Aufschub erlaubte. „Weckt den Magister“, befahl er harsch dem jungen Ordonnanzoffizier der Domestici, etwas seitwärts stehend, der neugierig auf den tropfenden Boten schaute, um den sich allmählich eine Pfütze bildete und mit kalter Hand das Depeschenfutteral von seiner Seite löste. Der Majordomus nahm es entgegen und wies dem Durchgefrorenen, welcher seinen Dienst getreulich verrichtet hatte den Weg zur Küche, damit jenem einem Mahlzeit bereitet und er sich aufwärmen könne.

Überall kam Bewegung im Haus auf, Lichter wurden entzündet, das nächtlich starr geborgene Haus, die villa des Kommandanten, begann sich zu beleben. Schatten huschten geschwind hin und her, referendarii, adiutores und singularii sowie die Offiziere mussten geweckt, in der Küche das Feuer entfacht und die Fußbodenheizung von den Sklaven auf Temperatur gebracht werden.

Kurze Zeit später im großen Saal, der noch im kühlen Halbdunkel lag, hatte Sklaven Feuerschalen entlang der Wände entzündet, denn bis die Heizung alle Winkel erfassen konnte, würde es noch ein Weilchen dauern. Nur die Schalen spendeten flackerndes Licht sowie an der Stirnwand ein hoher Standleuchter und ein kleinerer auf dem Tisch des Kommandanten, welcher eine Ecke der ausgebreiteten Lagekarte beschwerte, die übrigen Ecken des Pergaments wurden von einer Messingkanne, die fahl golden glänzte und zwei abgegriffenen kleinen schmutzig bronzenen Reiterstatuetten nieder gehalten.

Der Heermeister saß auf dem mit Leder bespannten klappbaren Scherenstuhl eine Weile reglos stumm da, die Arme an die Lehnen gewinkelt und das graubärtige Kinn auf die zusammengelegten Hände gestützt, hatte auf die Karte gestarrt und sprang nun auf, rückte den Stuhl zur Seite, ging zum Tisch, nachdem der letzte seiner hohen Offiziere den Raum betrat, die Fibel löste und einer bereitstehenden Ordonnanz den Mantel reichte, welche sich nun entfernte. Der Majordomus schloß eigenhändig die knarrende Holztüre und blieb am Portal stehen. Die zwei Hand breiten silbern beschlagenen Gürtel der Offiziere blinkten in der Glut der Feuerschalen auf, über den roten und weissen Tunicen, auf denen runde Zierapplikationen und kostbare Streifenbesätze prankten. Sie hatten in kleinen Grüppchen stehend, sich leise murrend miteinander unterhalten, mißmutig, da alle vorzeitig ihre warmen Betten verlassen mussten, taten es nun ihrem Befehlshaber gleich und traten an den Kartentisch heran.

Meine Herren, ich bedaure Ihnen den Schlaf geraubt zu haben, aber ich bekam Kunde aus Mogontiacum-Mainz. Die Sache erlaubt keinen Aufschub. Die Situation ist ernst, sehr ernst“, hob der Magister an und schaute in die Runde vertrauter Gesichter, sich überzeugend, daß alle seinen Ausführungen folgen würden. „Die Verteidigung auf dem östlichen Ufer des Rhenus ist zusammen gebrochen. Vermutlich Iuthungen, Alamanni und Vandales, nach dem derzeitigen Stand der Dinge, sind überraschend vorgestossen und haben die eigenen Kräfte der verbündeten Burgunziones, welchen die Sicherung des Vorfeldes oblag, vollkommen überrannt. Deren Verbände, soweit noch vorhanden, fluten ungeordnet auf die Rhenusbrücke zurück, versuchen sich mit Weib und Kind in Sicherheit zu bringen. Organisierten Widerstand scheint es östlich des Stroms nicht mehr zu geben. Welche von den burgi zur Zeit noch halten, ist momentan unbekannt, aber die meisten scheinen gefallen.“ Mit Strichen eines Stifts aus Blei gab er dem Lagevortrag grafisch Ausdruck, sizzierte den Vormarsch des Gegners. Wieder der Blick über seine Zuhörer, deren Gesichter konzentriert zur Karte oder ihm aufmerksam zugewandt waren, mit bedrückt sorgenvoller Mimik.

Der Dux Mogontiacensis, Kommandant der Stadt, will so lange halten wie es geht, aber er bittet um sofortige Unterstützung. Die Kräfte, die uns gegenüber stehen sind bei derzeitiger Lage zahlenmässig noch nicht abzuschätzen, aber wenn die Verteidigung auf dem gut befestigten Ostufer bislang nicht möglich war, scheinen sie ungewöhnlich groß zu sein“, der Heermeister unterbrach erneut und ein Raunen und Gemurmel ging durch die Reihe seiner hochrangigen Untergebenen. Denn alle waren mit den furchtbaren Ereignissen der letzten Jahre vertraut, eine Katastrophe reihte sich an die andere...

Scheinbar gibt es keine Ruhe mehr an unseren Grenzen, was auch immer in die Barbaren der Germania Magna gefahren ist, alles scheint in Aufruhr, die Tervingii vor drei Jahrzehnten waren nur der Anfang, wie bekannt folgten vor wenigen Jahren an der Donau Marcomanni und später Vandales; und sie kommen mit Sack und Pack, mit Kindern und Alten, da sind ganze Stämme unterwegs. Nachdem es Stilicho, dem Oberbefehlshaber unseres vergöttlichten Kaisers, mit Aufbieten aller Kräfte gelang die Tervingii unter Alarich, der im Ostreich ausser Kontrolle geraten und über Aquileia in Norditalien eingefallen war, Mediolanum-Mailand und das Umland terrorisierte, nach zwei schweren Schlachten ins Noricum abzudrängen, fielen kurz darauf die barbarischen Scharen des Radagaisus ein, der wusste, daß wir durch Abwehrschlachten geschwächt und die Grenzen an der Donau entblößt waren. Es wird ein Abtrünniger von Alarich gewesen sein, da jener bei der Niederlage von Pollentia seine Beute-Schätze verlor, die er zuvor auf den weiten Zügen durch Macedonia geraubt hatte und davon sein großes Gefolge bezahlen konnte, ohne diese wird er kaum mehr vermocht haben seine Anhängerschaft „bei der Stange“ zu halten. Stilicho konnte Radagaisus erst tief in Etruria schlagen, beide Invasionen in Italia haben uns zur Abgabe fast der Hälfte aller mobilen Truppenverbände genötigt, nun scheinen wir in Gallia an der Reihe …, musste ja so kommen“, fuhr der Heermeister fort, und: „...die Schläge der Barbaren nehmen kein Ende, irgendetwas scheint sie unaufhörlich auf unsere Grenzen zu drängen. Es würde mich nicht wundern, wenn`s die verdammte Hunnenbrut ist.“ Kurz nickendes Zustimmen aus den Reihen der Offiziere bestätigte die allgemeine Übereinstimmung in Einschätzung der schwierigen strategischen Lage.

Sind am Rhenus weitere Frontabschnitte in Mitleidenschaft gezogen, sind dazu Meldungen eingetroffen?“, fragte etwas voreilig der Kommandierende der Palatinae Sabarienses: „Haben wir bei Mogontiacum-Mainz mit dem Hauptangriff zu rechnen oder könnten sich die Attacken nördlich und südlich erweitern?“

Der Magister brummte leicht mißmutig: „Das ist zur Stunde noch ungewiss, aber durch die Signalkette wurden die angrenzenden Abschnitte unterrichtet und in Alarmbereitschaft versetzt. Die Depeschen an die Dux der Limitanei sind in Vorbereitung, welche den Kommandeuren die Besetzung aller Posten und erhöhte Wachsamkeit befehlen.“

Gab es denn keine Vorwarnungen unserer Kundschafter?“, wollte ein anderer der Hochrangigen wissen.

Der Heermeister schüttelte knapp den Kopf: „Niemand hat in dieser Jahreszeit mit einem so massiven Angriff gerechnet, jetzt wo alles in den Quartieren liegt. Bei dem Sauwetter jagt man doch keinen Hund auf die Gasse“..., und fügte nach kurzer Pause an: „...unser Nachrichtendienst war wohl nicht erfolgreich, aber umgekehrt scheinen die Barbaren die Schwächung unserer Verteidigung am Rhenus nach Abgabe der Verbände an Stilicho in Italien wohl registriert zu haben. Es war sicher nur eine Frage der Zeit...“

Der ranghöchste Offizier der Equites Honoriani rieb sich das Kinn: „Wenn die burgi so schnell gefallen sind, haben wir wohl tatsächlich mit etwas Größerem zu rechnen...Was ist, wenn der Angriff Dimensionen annimmt wie vor anderthalb Jahren unter Radagaisus, den Stilicho nur mit Mühe bezwang, unter Aufbietung der Kräfte, die uns nun fehlen und was sich damit rächt, wenn die Barbaren Wind davon bekommen haben. Wäre es nicht sinnvoll die Comes aus Hispania und Britannia mit ihren Verbänden anzufordern? Denn es wird dauern bis sie uns zur Verfügung stehen...“

Das habe ich auch schon in Erwägung gezogen, zumindest werden sie informiert, nur dafür kann ich die Verantwortung übernehmen. Denn diese Einheiten unterstehen ja ausschließlich dem Oberkommando Stilichos, die Entscheidung muss er fällen. Aus Italien oder Illyrien wird er uns kaum Hilfe zusenden, da unsicher ist was Alarich im Noricum ausbrütet, geschlagen ist jener nicht - Britannien wäre eine Möglichkeit, denn es ist sinnlos die Küsten der Insel zu verteidigen, wenn uns Größeres auf dem Festland droht.“ Der Heemeister richtete sich auf und wies auf den Offizier zu seiner Linken: „Der Oberquartiermeister wird ihnen gleich eine genaue Übersicht aller verfügbaren Einheiten geben, mit Angabe der Winterruheorte. Als Sammelpunkt würde ich Divodurum-Metz vorschlagen, das für die meisten der Palatinae- und Comitat-Einheiten schnell zu erreichen ist, Reiter-Vexillationen übernehmen die Vorhut, an ausreichend Futter für den Marsch ist zu denken. Die Befehle zum Aufbruch sind in Vorbereitung und gehen sofort an die Ortskommandeure raus. Möglicherweise bleibt uns nicht viel Zeit. Es hängt wohl alles davon ab, wie lange sich Mogontiacum-Mainz halten kann und wann es gelingt die Brücke niederzureissen, solange noch Burgunziones darüber fluten. Mit jenen wird man wohl wenig anfangen können, bestenfalls verstärken sie die Garnison der Stadt. Also meine Herren, das ist die Situation, immer das Gleiche mit dem unzuverlässigen Foederatenpack.“ Der Heermeister warf einen forschen Blick in die Runde, nachdem er dies mit Nachdruck geäussert hatte, denn viele der hier Versammelten waren germanischer Herkunft, wussten, daß dieser verbale Hieb nur knapp an ihnen vorbei ging. Wie loyal hatte man gegenüber Rom zu sein?

Als Sammelpunkt sei Divodurum-Metz gewählt, weil von hier aus schnell auf Argentorate-Straßburg und den oberen Rhenus vorgerückt werden kann, wenn die Alamanni sich regen und der zuständige Comes dort Unterstützung benötigt, umgekehrt können Teile seiner Kräfte angefordert werden, falls dieser Frontabschnitt ruhig bleibt, der Bote ist bereits raus. Auch der Dux in Vesontio-Besancon wird seine Truppen sammeln und als Reserve nach Norden führen, entweder zum Rhenus oder zu uns, je nachdem wo es brenzlig wird. Die fränkischen Foederaten sollen im Maas-Raum bei Aduatuca-Tongeren sammeln, dann können jene zur Not am unteren Rhenus eingreifen, falls Gefahr von den ripuarischen Franken vom Ostufer droht. Alle rückwärtigen Kräfte des Dux der Armoricani sollen zunächst in Cenabum-Orleans an der Loire sammeln und dann geschlossen über die Seine und weiter auf Durocotorum-Reims vorrücken. Die wichtigsten Straßenstützpunkte bis zur Mosella werden nun von Exploratores und Praeventores gesichert. Erfolgen keine Angriffe an den übrigen Frontabschnitten, bzw falls Mogontiacum-Mainz rasch fällt, so daß die Bastarde schnell nach Westen vorstossen, ist das gemeinsame Vorgehen auf Treverorum-Trier beschlossen, wo sich unsere Armeen aus drei Richtungen vereinigen werden. Unser Weg über die Heeresstraße die Mosella abwärts wäre in dem Fall der Kürzeste, so daß mit früher Feindberührung gerechnet werden muß, Equites Dalmatae übernehmen die Aufklärung. Keine Schlachtannahme vor Heeresvereinigung, auch wenn Treverorum-Trier möglichweise selbst in Gefahr gerät. Die gemeinsame Schlagkraft des gesamten Heeres muss erhalten bleiben, bzw wir müssen mit den kümmerlichen Resten, welche uns geblieben sind, gut haushalten. Denn mit der Abgabe nach Italia steht es nur knapp die Hälfte der Legionen zur Verfügung. Wir werden wohl Limitanei-Verbände ins Feldheer aufnehmen müssen.Mit Nicken gaben die Beteiligten ihrem Magister die Zustimmung.

Jener fuhr fort: „Zunächst benötigen wir genaue Stärkezahlen des Angreifers und wir müssen in Erfahrung bringen, wer sie führt, damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben.“

Einer der anwesenden Ranghöchsten: „Ich gebe zu Bedenken, daß es immer ein hohes Risiko birgt sich auf Foederaten zu verlassen, abseits von Toxandrien sind die Franken kaum zu gebrauchen, sie kämpfen nur ungern fern der Heimat.“

Das sehe ich auch so, aber wir müssen es einkalkulieren, ihre Kräfte sind unverzichtbar, sollte es zum Schlagen kommen bleiben sie in zweiter Linie...wir werden sie nicht opfern, wie Theodosius seine Tervingii am Frigidus, das säht nur Unfrieden, der sich gegen uns wenden wird...“




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